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Soundcheck: Sperling – Zweifel

Jenna HEAD OF PHOTOGRAPHY I ART DIRECTOR I CHIEF EDITOR
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Soundcheck: Sperling – Zweifel
Leserwertung7 Bewertungen
9.7
9
MEGAHERTZ

Und dann sitzt man vor dem Laptop, lauscht der Musik und denkt sich: Darauf war ich nicht vorbereitet.

 

lol

Band: Sperling 

Album: Zweifel 

Label: Uncle M 

Release: 22.01.2021

 


 

Still und heimlich haben Sperling im idyllischen Hunsrück ihr Debütalbum „Zweifel“ geschrieben das schon mit seinem Titel deutlich macht, mit welchen emotionalen Wirrungen es sich beschäftigt. Die fünfköpfige Band mischt Fjørt-mäßige Post-Hardcore-Wände mit mächtigen Casper-ähnlichen Raps und einem Cello. Und das alles in einer Konsequenz und Qualität, die es bislang in Deutschland so noch nicht gegeben hat.

Die meisten Vögel ziehen über den Winter in wärmere Gefilde.
Der Sperling jedoch bleibt und harrt aus, bis es wieder wärmer wird.“ – Sperling

Zweifel könnt ihr euch hier besorgen.

Klingt vielversprechend. Ich habe mich dann ziemlich spontan entschlossen die Platte von Sperling zu rezensieren. Meine Kollegin hat mich bereits vorgewarnt, welche Emotionen die Songs bei ihr auslösten. Da ich ja immer behaupte, dass mich nichts so schnell umhaut, lässt sie mich nun mit der Platte allein. Danke. Und was soll ich sagen? Die Platte geht auch mir unter die Haut. 

Fangen wir also erstmal von vorne an. Was erwartet uns eigentlich beim 12 langen Longplayer? Mit wem könnte man den Sound vergleichen? Die Stimme und der Gesang klingen irgendwie nach einer Mischung aus AnnenMayKantereit und Caspar. Eine zweite Gitarre wird ergänzt durch einen Cello, welches dem ganzen Instrumental schon Mal eine tiefere und dramatischere Note verleiht und mit der Mischung aus Indie, Post-Hardcore, Gesang und Rap gibt es für mich auch keine vergleichbare Band, auch wenn im Pressetext Fjørt als Referenz angegeben wird. Aber warum soll man auch immer vergleichen, richtig? Sperling hat in diesem Fall etwas ganz Eigenes und das ist auch gut so. Wiedererkennungswert und Einzigartigkeit ist in meinen Augen sehr wichtig. 

 

Der Sound ist gewachsen, er ist reifer und größer geworden. Es braucht einfach eine Zeit um einen eigenen Sound zu finden, Dinge auszuprobieren und sich an Neues heranzutrauen. Trotzdem würden wir ihn nie als ‚fertig’ bezeichnen. Wir werden nicht aufhören uns zu verändern und zu entwickeln.“ – Jojo 

 

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Das Album beginnt mit dem Song Eintagsfliege. Hier könnte man meinen im Kino zu sitzen und den Intro eines Actionfilmes zu sehen. Der Track beginnt mit einem sich immer weiter aufbauenden instrumentalen Part, bis der Sprechgesang anfängt und von Sekunde zu Sekunde energischer wird und dann im Refrain zum Höhepunkt kommt. Dort bricht emotional alles aus. Die Screams, die Dramaturgie in den Instrumenten und so viele Gefühle, die auf den Hörer einprasseln. Ein geniales Stück, dass sich als Einleitung perfekt eignet, um sich mental auf das Gesamtwerk vorzubereiten.

„Hörst Du  mir überhaupt zu?“ 

Haben wir mit dem ersten Song schon alles von Sperling gehört? Nein. Es ist erst der Anfang einer emotionalen Achterbahnfahrt. Uns erwarten eine Menge Wendungen und unvorhersehbare Highlights. Der zweite Track „Bleib“ zeigt uns die härtere, aggressivere Seite der Band und bewegt sich in die Richtung Post-Hardcore. Ich muss zugeben, dass ich selten deutschsprachigen Post-Hardcore gehört habe, der mir auch gut gefällt. Dieser Mix zwischen aggressiv, nahe der Verzweiflung und doch dem Hauch der Zerbrechlichkeit, ist sehr gelungen und nimmt mich mit. Insgesamt ein klasse Stück, dass im Ohr hängen bleibt. 

Mit Stille erwische ich einen Song, den ich mir doch irgendwie anders vorgestellt habe, als ich die Trackliste las. Vielleicht da ich Stille mit Sanftheit und Ruhe assoziiere. Doch der Track ist paradoxerweise auf seine Art und Weise aufbauend, fast schon motivierend gestaltet, wenn ich nach der Musik gehe. Gefüllt mit rhythmischen Elementen und dem melodischen Cello-Part fühlt man sich angetrieben zu handeln und sich nicht hängen zu lassen. Generell erfreue ich mich an die vielen Gitarren- und Cello-Interaktionen. Es erscheint so, als würden sie hin und wieder miteinander harmonieren, sich gegenseitig ergänzen und in manchen Song liefern sich beide Instrumente ein geniales Battle. Sehr interessant gestaltet, was auch sehr für Abwechslung sorgt.  

 

 

Exklusiv zum Download gab es den Song „Toter Winkel“. Dieser nicht auf den gängigen Streamingportalen zum Anhören zur Verfügung gestellt wurde. Ein schon fast punkiger Schachzug. Doch „Toter Winkel“ ist alles andere als Punk. Für mich gehört dieser langsame Track ins Radio, auf die großen Festivalbühnen. Es hat poppige Wurzeln und kann meiner Meinung nach auch die größere Masse erreichen. Der Chorus lädt zum Mitsingen ein und geht mir gleichzeitig auch sehr Nahe. 

 
 

 

ACHTERBAHN DER GEFÜHLE

 

Zwei Songs machen es mir ziemlich schwer sie zu hören. Baumhaus und Mond. Sie sind erdrückend und enthalten eine ordentliche Portion Depri-Stimmung. Baumhaus löst bereits beim instrumentalen Intro eine tiefe innere Unruhe aus. Anfangs lässt man sich von der Melancholie treiben, doch mit jeder weiteren Sekunde kommen Frust und Aggressionen dazu, die im Refrain stimmlich und auch an den Instrumenten ausbrechen, bis es zum plötzlichen Breakdown kommt und man sich erneut von der Melancholie und dem lyrischen Meisterwerk einhüllen lässt. Dieser Song beschreibt eine emotionale Achterbahnfahrt am Besten. 

 
 
Denn ich bin der Mond
Ich kann nur scheinen wenn du strahlst 
Ich leuchte nur im Dunkeln – nie am Tag
Und ich warte auf die Nacht
Ich warte auf die Nacht
Wenn Sterne explodieren brauchen sie Platz

 

Mond dagegen ist durchgängig tiefemotional. Ohne Schlagzeug, nur begleitet von Saiteninstrumenten und einem nahezu zerbrechlichen Gesang gehört es insgesamt zu den ruhigeren Tracks.  Mental löst dieser Song mit seiner Melancholie und ergreifenden Lyrics sehr viel aus, was ich gar nicht in Worte verfassen kann. Das lieber auf der dunklen Seite des Mondes bleiben soll. Ein großes Lob geht auch hier an die Schreiber dieses Songs. Diese Lyrics müssen einfach gehört werden! 

 

 

 

Sperling erzählen Geschichten vom Alleinsein, von Depression und dem Umgang mit Ängsten und Zweifeln. Aber die Hoffnung, die Zuversicht und der Wille in all dem etwas Gutes zu sehen stehen zwischen den Zeilen geschrieben.

 

Kommen wir zum Finale des Longplayers. Schlaflied ist eigentlich ein Gedicht, welches Sänger Jojo schrieb. Es ist zu Beginn ähnlich aufgebaut wie Mond. Dennoch nicht mit dieser depressiven Note versehen, auch wenn hier das Thema Tod behandelt wird. Dieser Song nimmt dem Hörer die Angst vor das Ableben. Man könnte einfach nur einschlafen und der samten Stimme lauschen. Insgesamt ist das Lied kurz, aber verdammt schön. Gefühlt war der fast drei minütige Track nur 60 Sekunden lang. Der Gesang wird mit der Akustikgitarre begleitet und lässt mich träumen, wie man mit der Gitarre am Bett sitzt und diesen Song einer liebenden Person vorsingt. 

Ich kann vorausgehen wenn du gehst.
Ich bleibe wach solang du schläfst.“ – Schlaflied

 

Als der letzte Ton der Platte verklingt ist es bereits drei Uhr morgens und die Gedanken kreisen. Es ist ruhig und mir wollen viele Zeilen einfach nicht mehr aus dem Kopf. Diese Atmosphäre, die diese Platte inne hat, lässt mich wünschen, dass Gitarre in Kombination mit Cello öfter zusammen kommt. Auch hier an dieser Stelle großes Lob an den Cellisten. 


 

Ich vergebe Sperling mit dieser gelungenen Platte 9 von 10 Megahertz. Diese Platte war für mich eine persönliche Herausforderung.  Die Songs sind alle sehr emotional und intensiv. Man ist so sehr von seinen Empfindungen abgelenkt, dass man die Platte gar nicht objektiv und aufs kleinste Detail rezensieren kann, sondern auf das Gefühlschaos, welches die Jungs erfolgreich entlocken. Qualitativ ist dieses Werk eine hohe Nummer und kann problemlos mit großen Künstlern mithalten. Jeder einzelne dieser Band hat für sein Instrument das richtige Händchen und Feingefühl. Die tiefgründigen Lyrics beweisen wieder Mal, dass Deutschland das Land der Dichter und Denker ist. Warum gibt es dann bei so vielen positiven Worten keine 10/10? Sperling beweisen zwar, dass sie durchaus mehrere Genres beherrschen und kombinieren können. Doch manchmal ist weniger Abwechslung etwas mehr. Ich habe das Gefühl, dass sie sich noch nicht ganz gefunden haben und noch eine Menge experimentieren werden. Sie sind auf dem besten Weg dies herauszufinden. Wenn ich aber gefragt werde, wer Sperling überhaupt sind, dann könnte ich ihnen eine einfach und kurze Antwort geben.